Erinnert ihr euch an die Gezi-Proteste in Istanbul im Mai/Juni 2013? Aus dem Engagement einer kleinen Gruppe von Umweltschützern, die verhindern wollten, dass Bäume in einer der letzten grünen Oasen im Herzen von Istanbul gefällt werden, wurden landesweite Proteste gegen die Regierung. Euphorie machte sich breit, immer mehr Menschen schlossen sich an, zunächst in Istanbul, dann nahezu überall in der Türkei. Eine völlig neue Bewegung entstand, junge Menschen aus allen möglichen Milieus kamen zusammen, lebten ideologie- und gruppenübergreifende Solidarität mit der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung, mit nie dagewesenem kollektivem Humor, mit Gestaltungswillen und schier endloser Energie. Plötzlich war Licht am Horizont.
Doch dann setzte der Staat auf Polizeigewalt. Der Park wurde geräumt, Kundgebungen im ganzen Land gewaltsam aufgelöst, die Proteste niedergeschlagen. Mindestens fünf junge Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Doch der Funken glomm weiter: „Auch wenn wir unterliegen, den Geschmack von Aufstand haben wir jetzt auf der Zunge.“**
Ich war nicht im Park dabei, unterstützte die Proteste aus der Ferne, vor allem mit Übersetzungen vom Schreibtisch aus. Dann kam im Herbst 2013 vom Berliner binooki-Verlag die Anfrage, ob ich nicht ein Buch zum Thema herausgeben wollte. Daraus entstand die literarische Anthologie Gezi.
Kurz vor dem Auftrag für die Anthologie war ich durch die Hamburger Hafencity gelaufen und hatte die zündende Idee, wie ich die verschiedenen Themen, die mich damals umtrieben, zusammenbringen konnte:
Gezi, StreetArt und Mauerbilder, Stadtentwicklung, bikulturelle Beziehungen, Kriegskinder-Traumata, innerfamiliärer Kontaktabbruch, Tourismus-Kritik, Kintsugi, #şiirsokakta (Poesie auf der Straße) …
Noch im Hafen notierte ich die ersten Ideen, hatte bald auch ein paar Kapitel geschrieben, dann aber rückte das Projekt in den Hintergrund, denn die Gezi-Anthologie drängte. Und als sich die politische Lage in der Türkei zuspitzte, 2016 auch noch ein Putschversuch und der Ausnahmezustand folgten und mir ungeheuer viel Übersetzungsarbeit bescherten, dauerte es viel länger als gedacht, bis das Manuskript für den Roman fertig war. Jetzt aber ist es soweit:
Am 21. Februar 2022 erscheint Lichtblau #mavi !
Natürlich startet der Roman mit Gezi, führt dann aber weit darüber hinaus. Mehr zum Inhalt beim nächsten Mal!
Auf eine Buchpremiere live und mit Gästen wie bei meinem ersten Roman Kein Frühling für Bahar muss ich diesmal leider verzichten. Dafür gibt es dieses Blog. Hier poste ich Hintergründe, Wissenswertes, Zusätzliches zu einzelnen Aspekten aus und rund um Lichtblau#mavi herum, auch Fotos und Tipps zum Weiterlesen. Und bin gespannt auf eure Fragen, Anmerkungen, Kommentare …
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* Gezi-Foto und Plakat-Foto © Selen Özer Günday
** Zitat von Burhan Sönmez aus „Ästhetik des Widerstands“ (in: Gezi – Eine literarische Anthologie, Berlin 2014)