Traumata der Kriegskinder und–enkel

Ich reiße die Füße mitsamt den rostigen Nägeln vom Boden und fliege zur Tür. Die Ratten im Kohlensack verharren still. Ich schwebe auf den Hausflur hinaus, kräftige Schwimmstöße schieben mich vorwärts. Draußen das Klo ist verrammelt. Sirenen heulen. Die Stiege! Ein Tritt, ins Leere, ich stürze … (S. 15)

Marie (Mitte 40) träumt wiederholt von sich als kleinem Mädchen, offenbar im Krieg. Es sind Angstträume, die sie bedrücken. „Mollträume“ nennt ihr Mann sie, und das ist genau die Stimmung, die sie nach den Träumen nicht loslässt: Moll! Irgendwann liest ihr Mann in der Zeitung etwas über „Kriegsenkel“, Marie wehrt ab, fragt vor allem, warum das nur in Deutschland Thema sein soll, obwohl doch überall auf der Welt viele Menschen mit furchtbaren Kriegstraumata leben. Ihr Mann aber liest weiter: „Es kommt vor, dass Kinder von Kriegskindern, Frauen vor allem, in Traumbildern erleben, was ihre Mütter damals traumatisiert hat …“ Da kommt Marie dann doch ins Nachdenken …

In Deutschland gibt es zu beiden Phänomenen, dem der Kriegskinder und -enkel wie auch zur Übertragung von Traumata und Träumen auf nachfolgende Generationen mittlerweile eine ganze Reihe Studien wie auch populäre Publikationen. Ich las zuerst bei Sabine Bode über Kriegskinder (1). Der Begriff hat sich „für die zwischen 1930 und 1945 Geborenen“ etabliert, sie waren „zu jung für den direkten Fronteinsatz, aber alt genug, um Hunger, Vertreibung und Bombenangriffe zu erleiden, den Verlust von Angehörigen, Trennungen und Todesangst“ (2).

Studien ergaben, „ … dass Kriegskinder heute weit häufiger unter psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden leiden als der Bevölkerungsdurchschnitt. Rund ein Viertel der (…) befragten Kriegskinder zeigte sich stark eingeschränkt in der psychosozialen Lebensqualität, jeder Zehnte war traumatisiert oder hatte deutliche traumatische Beschwerden. ‚Diese Menschen leiden unter wiederkehrenden, sich aufdrängenden Kriegserinnerungen, unter Angstzuständen, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden‘, (…) besonders häufig tauchten Krämpfe, Herzrasen und chronische Schmerzen auf.“ (3)

Bei deutschen Kriegskindern komme der Nachhall der nationalsozialistischen Erziehung hinzu: Es galt, tapfer durchzuhalten, für Gefühle, für Leiden gar war kein Raum. Selbst wenn das Verdrängen von Traumata gelang, bröckeln im Alter häufig die Abwehrmechanismen. Wenn Ablenkung und Halt durch Familie oder Beruf wegfallen, wenn altersbedingte Hilflosigkeit hinzukommt, können lange verschüttete oder verdrängte Erinnerungen wieder auftauchen. So hat in Lichtblau#mavi Imke (Anfang 70) nie aufgearbeitet, was sie als Kind im Krieg erlebt hat. Um trotz des frühen Traumas ein „normales“ Leben führen zu können, hat sie verdrängt, sich gewissermaßen emotional einbetoniert. Es kommt auch jetzt nichts an die Oberfläche ihres Bewusstseins, nur Splitter dringen in Krisensituationen durch. Doch das reicht nicht aus, damit sie einen sicheren Zugang zu ihren Gefühlen bekäme.

Emotionale Abwesenheit, fehlende Resonanz auf die Umwelt bei betroffenen Eltern sind dann auch Störungen, unter denen vor allem die Kinder von Kriegskindern zu leiden haben. Als Kriegsenkel bezeichnen sich diese zwischen etwa 1960-1975 Geborenen. Zudem finden sie sich häufig in einer Art „Gefühlserbschaft“ (Freud) wieder, einer speziellen Form der Übertragung einer „transgenerationalen Weitergabe kriegsbedingter Belastungen“(4). In Lichtblau#mavi gehört Marie dieser Generation an, vor allem in psychisch instabilen Situationen wie dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Unsicherheit, wie es weitergehen soll, träumt sie, wie sie bald vermutet, die ungelösten Traumata ihrer Mutter.

Selbstverständlich sind nicht alle Angehörigen der entsprechenden Geburtsjahrgänge in gleichem Maße oder überhaupt betroffen, sei es aufgrund unterschiedlichen Erlebens, sei es dank stärkerer Resilienz. Dennoch bietet der Kriegskinder/Kriegsenkel-Diskurs plausible Erklärungsansätze für psychische oder emotionale Blockaden und Verhaltensauffälligkeiten, die Menschen dieser Generationen aufweisen können.

Mit Marie frage ich mich aber auch, wie traumatisierte Menschen in anderen Kulturen mit ähnlichen Traumata umgehen, ob es dort zu ähnlichen Übertragungen kommt, oder ob sich das Problem beispielsweise durch andere Formen der Trauma-Verarbeitung möglicherweise nicht in gleicher Weise stellt, etwa durch ritualisiertes, oft gemeinsames Trauern. Der Terminus „Kriegskinder/Kriegsenkel“ hat sich meines Wissens nur im Deutschen in dieser Bedeutung etabliert.

Da sich mit der Kriegskinder/Kriegsenkel-Rhetorik in Deutschland auch ein neuer, durchaus fragwürdiger Opferdiskurs aufgetan hat, sei hier noch auf die so genannten Nazareth-Konferenzen (5) hingewiesen, die Psychoanalytiker aus England, Israel und Deutschland seit 1994 abhalten, um durch den Abbau kollektiver Vorurteile und Ressentiments zur Lösung von Konflikten beizutragen. Sie ähneln den zuerst nach dem Ende der Apartheid in Südafrika eingerichteten „Wahrheitskommissionen“, wie es sie inzwischen in vielen Staaten am Übergang von Diktaturen zu Demokratien gibt.

Spoiler, ohne zu viel verraten zu wollen: Marie schafft es, sich aus den Klauen ihrer Mollträume zu befreien, Imke hingegen bleibt in ihren unverarbeiteten Traumata gefangen…

Anmerkungen:

  1. Sabine Bode: Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart 2004.
  2. Matthias Lore, zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegskind_(Deutschland)
  3. Ulrike Demmer, s.vor.
  4. Hartmut Radebold, zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsenkel
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Nazareth-Konferenzen

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